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Geschenk der Unsterblichkeit

Titel: Geschenk der Unsterblichkeit

Autorin: Hoellenhund (Lilly Hidomi)

Abgeschlossen? nein, bisher 3 Kapitel

Erstes Kapitel: Die Nacht erblüht

Animexx-Link: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/45685/74718/

Kritik:  Was mir an dieser Geschichte besonders gut gefallen hat, ist dass Gut nicht unbedingt Gut ist und Böse nicht unbedingt Böse. Zumindest bis zu dem Teil den ich gelesen habe wird es offen gelassen und obwohl es eindeutig eine Liebesgeschichte ist, ist es auch nicht kitschig, was ja wirklich sehr schnell passiert. *rot werd* *hüstel* Na ja, reden wir von was anderem.

Bemerkung: Das Kapitel ist hier nicht vollständig aufgeführt sondern nur bis Seite(bei Animexx)6 Absatz 3.

Die Nacht erblüht

Es ist noch nicht spät, vielleicht acht. Ich liege in meinem Bett und gönne mir eine kleine Pause, da ich mit meiner Freundin Celes shoppen gewesen und nun völlig erschöpft bin. Ich habe meine Hausarbeiten noch nicht erledigt, doch die müssen wohl oder übel warten.
Jemand tritt in das abgedunkelte Zimmer. Ich kann niemanden erkennen, doch ich weiß, dass es Lilith ist. Ich kenne ihre Schritte.
Seit über einem Jahr wohnen wir nun schon in dieser WG und ich bin glücklich damit. Eigentlich wollte ich mit Celes zusammenziehen, doch sie hatte es bevorzugt bei ihrem Geliebten zu wohnen. Ich nehme es ihr nicht übel. Als sie es mir gesagt hat, war ich ein kleines bisschen sauer, das schon, aber das ist schnell verflogen. Hätte ich einen Freund gehabt, wäre ich sicher auch mit ihm zusammengezogen.
Ich höre wie Lilith ihre Tasche achtlos auf den Boden wirft. Das tut sie immer und ich bezweifele, dass es sich jemals ändern wird. Für einen Augenblick belustigt mich die Vorstellung, wie eine grauhaarige Lilith ihre altmodische Handtasche auf den Boden wirft.
“Mach doch das Licht an“, sage ich.
Lilith Finger berühren sofort den Lichtschalter und das Zimmer wird in Begleitung eines leisen Klickens mit Licht geflutet. Lilith hebt den Arm vors Gesicht. Nach einigen Sekunden des Wartens lässt sie ihn wieder sinken.
“Wieso hast du die Rollläden runtergelassen?“, will sie wissen und setzt sich an die Bettkante.
“Ich war müde“, lüge ich.
Ich wollte es ihr nur annehmlicher machen. Doch das ahnt sie nicht.
Sie zieht ihre Turnschuhe aus und stellt sie neben ihre Tasche. Mit ihrer Kleidung geht sie wesentlich sorgfältiger um, als mit ihren Taschen und Rucksäcken.
Mein Blick fällt auf ihren rechten Arm. An ihrem Handgelenk befindet sich ein kleines Fleischloch, das offenbar nicht geblutet hat und ringsherum extrem angeschwollen ist. Ich greife nach ihrem Arm und ziehe ihn an mich heran, um ihn genauer zu begutachten.
„Was hast du da gemacht?“, frage ich sie mit einem bewusst vorwurfsvollen Unterton.
Sie antwortet nicht. Habe ich auch gar nicht erwartet.
Nach einigen Minuten des Schweigens sagt Lilith langsam: „Beim Training war es etwas radikal.“
Auch wenn Lilith Sport grundsätzlich verabscheut, ist sie einer Volleyballmannschaft beigetreten, die sich einmal die Woche trifft. Und dieser Tag ist heute.
“Beim Training? Du kannst nicht da gewesen sein, mit dieser Wunde kannst du unmöglich baggern“, erinnere ich sie.
„Baggern“ ist eine Art beim Volleyball den Ball zu schlagen. Man streckt die Arme vor sich aus, faltet die Hände und geht danach etwas in die Hocke um den Ball dann mit den Unterarmen zu Schlagen.
„Natürlich war ich dort“, gibt Lilith verblüfft zurück und ich spüre, dass es die Wahrheit ist.
„Dann konntest du ja die ganze Zeit kaum spielen“, bohre ich weiter nach.
“Wieso? Ich habe mich nicht vor dem Training verletzt sondern dabei“, stellt Lilith es richtig.
“Ja dabei... Oder eher nachher?“
Ich habe Recht. Lilith senkt den Kopf und sagt nichts mehr. Sie ist vollkommen stumm, doch ich kann fast spüren, wie es in ihr arbeitet, wie sie überlegt, ob sie mir die Wahrheit sagen soll und sich tausend Ausreden ausdenkt, eine unglaubwürdiger als die andere.
Schließlich seufzt sie: „Ach Minachi....“
Ich setze mich auf und ziehe Lilith an mich. Sie lässt es zu, ist zu schwach um sich zu wehren. Langsam lasse ich mich rücklings zurück ins Bett sinken, sie immer noch an meine Brust gepresst. Dann lege ich den Kopf in den Nacken und führe Lilith Kopf zu meinem Hals. Ich spüre ihren Protest und verstärke meinen Griff ein wenig. Es ist kein Wunder, dass Lilith sich wehrt.
Für einen Vampyr, der seine Persönlichkeit nicht richtig entfalten kann, ist das Leben schwer. Als Lilith nun bemerkt, wie mein Hals Stück für Stück immer näher kommt, stemmt sie sich ängstlich, aber nur halbherzig gegen meinen Griff. Je näher ihr mein Hals kommt, desto heftiger und panischer wehrt sie sich. Bis sie schließlich so nahe ist, dass sie meinen Hals fast mit der Nasenspitze berührt. Ich spüre wie ihre Proteste nachlassen. Sie hat nicht mehr den Willen sich zu wehren. Noch ein letztes Stemmen gegen meinen Griff und ihr Körper entspannt sich. Sie setzt ihre warmen Lippen auf meinen Hals. Es ist die linke Seite, ihre „Lieblingshalsseite“ wie sie es immer nennt. Ich weiß, dass ich sie nun loslassen kann. Sie hat nicht genügend Willenskraft um sich nun noch zurückzureißen. Lange hat sie kein Blut mehr getrunken. Schon nicht mehr, seit ihr Geliebter ihr beichtete, dass er diese Eigenschaft an ihr hasst. Das ist sicher der Grund, aus dem sie gleich zweimal zubeißt. Das tut sie sonst nie. Aber mich überrascht es nach der Fleischwunde in ihrem Arm wenig. Ich mag es, wenn sie mich beißt.
Als die Wunden an meinem Hals nicht mehr bluten, rollt Lilith sich von mir runter und bleibt reglos neben mir liegen. Ich wüsste zu gerne was sie jetzt denkt. Weint sie innerlich, weil sie es nicht geschafft hat, ihre Gier zu kontrollieren? Oder dankt sie mir im Stillen für meine Aufgeschlossenheit zu dem Thema? Vielleicht ist sie einfach nur glücklich, dass ihre „Sucht“ mindestens für den nächsten Monat gestillt ist. Vielleicht auch alles zugleich.

Es ist ganz schön heiß“, sage ich, als Minachi und ich unsere Wohnung verlassen. Ich habe es mir wesentlich kühler vorgestellt. Ich mag es nicht, wenn es zu heiß ist – und schon gar nicht zu hell.
„Wollen wir nich’ doch lieber ins Kino gehen?“, schlage ich vor und wende mich automatisch in Richtung Bahnhof.
„Nix wird, Lilly“, lacht Minachi, „Wir sind verabredet“
„Ach ja?“, erwidere ich verblüfft.
Davon hat sie nichts gesagt, „Mit wem?“
„Mit Tara“, sagt Minachi gut gelaunt wie rund um die Uhr und nimmt mich am Arm um mich in Richtung Schwimmbad zu zerren.
Am Bad angekommen gehen Minachi und ich uns umziehen. Ich schlage vor, eine Familienumkleidekabine zu nehmen, aber sie lehnt es ab. So verschwindet schließlich jede von uns in einer einzelnen Kabine. Aber das Schließfach teilen wir uns.
„Wo sollen wir Tara suchen?“, frage ich sie und blicke bedächtig nach rechts und links.
„Da ist sie doch!“, lacht Minachi und zieht mich zu einem der Holztische gleich am Eingang.
Dort sitzen Tara, ihre kleine Schwester und ihr noch kleinerer Bruder und essen Pommes. Ich kann es kaum glauben, dass sie ihre Geschwister mitgebracht hat. Ich kann nicht mit Kindern.
„Hi Tara!“, begrüßt Minachi unsere Freundin.
„Huhu“, sage ich halbherzig.
Tara setzt zu einem kindischen Winken an und sagt: „Tach. Wie immer blind, was?“
Das ist an mich gerichtet. Ihr Unterton klingt immerhin nicht sehr spöttisch. Auch wenn sie nicht weiß, dass ich bei Tag über ein schlechteres Sehvermögen verfüge als normale Menschen.
„Ich hol mir ein Eis“, sage ich um vom Thema abzulenken.
„Willst du auch eins, Minachi? Ich lade dich ein“, setze ich nach.
Aber Minachi lehnt ab.
„Ich muss auf meine Figur achten“, sagt sie und klatscht sich mit einer Hand auf den Bauch.
Ich grinse und gehe zum Kiosk gegenüber unseres Tisches. Als ich zurückkomme, unterhalten sich Minachi und Tara gerade ausgelassen über ihr gemeinsames Hobby: Das Jugendrotkreuz. Sie leiten zusammen eine Gruppe kleiner, quälgeistiger Gören und diskutieren darüber, was sie für den sogenannten „Kreiswettbewerb“ mit den Kleinen üben müssen. Tara natürlich mal wieder mit Händen und Füßen. Der Kreiswettbewerb ist eine Versammlung von Jugendrotkreuzgruppen aus verschiedenen Orten, die sich einmal im Jahr treffen um die beste Gruppe zu küren.
Ich setze mich neben Minachi und schlecke mein Eis am Stiel. Ich höre nur mit halben Ohr zu, da mich das Wassereis an Sean erinnert. Er liebt Wassereis. Am meisten das mit Orange.
Ich träume vor mich hin, bis ich bemerkte, dass mich Tara und Minachi anstarren.
„Was?“, frage ich.
„Ob wir uns in die Sonne legen wollen“, fragt Tara offensichtlich zum 2. Mal.
„Nein“, sage ich und ziehe das letzte Stück Eis vom Stiel herunter, um es in meinem Mund schmelzen zu lassen, „Ich würde lieber ins Wasser gehen.“
„Na dann mal los, meine Freunde“, grinst Minachi breit und legt Tara und mir einen Arm um die Schulter; sie sitzt in der Mitte.
„Hallo Lilith“, grinst Julian blöde.
Ein Typ aus unserer Klasse, ein Alltagsjunge. So etwas, das man jeden Tag zu sehen bekommt und das einen ankotzt. Natürlich hat er seinen zwei Meter großen Marten dabei. Ansonsten hätte er sich sicher nicht getraut mich anzusprechen.
„Nicht beachten“, rät mir Minachi und wir gehen weiter.
„Habt ihr etwa Angst vor uns?“, lacht Julian. Ich wende mich um.
„Sehe ich aus als hätte ich vor einer solch niederen Kreatur wie dir Angst?“, sage ich ruhig und missachte Marten, der sich hinter Julian platziert hat.
„Laber doch nich immer so nen Scheiß“, fährt Julian mich an.
Ich lache ihn aus.
„Was lachst du so hässlich?“, nörgelt er weiter.
Ich wandle mein Lachen in ein triumphierendes Grinsen um und sage: „Ich weiß schon wieso dir deine Mami immer das Geheimnis des Spiegels vorbehalten hat. Du hättest es nicht ertragen, wenn du gewusst hättest, dass diese hässliche Visage dir gehört.“
Minachi und Tara lachen spöttisch, so wie es mir gefällt.
„Hex Hex“, gibt Julian von sich.
Ich lache ihn wieder aus.
„Zurückgeblieben“, kommentiert Tara.
„Ja, und ihm fällt kein aussagekräftiges Gegenargument ein“, setze ich hinzu.
Wir lachen weiter.
„Wieso gibst du dich überhaupt mit so was Fettem ab?“, setzt Julian neu an, „Du stehst wohl auf ein bisschen Speck, was?“
Mein Lachen stirbt. Er meint Minachi und das wird ihm noch Leid tun.
„Halt endlich deine bekloppte Fresse, wenn du keinen Ärger willst!“, schreie ich so laut, dass sich das halbe Bad zu uns umdreht.
„Ach guck mal wie aggressiv sie wird“, spottet Julian als würde er mit Marten reden.
„Und ich werd gleich noch viel aggressiver“, fauche ich. Ich brauche nicht mehr zu schreien, das ganze Bad lauscht unserer Unterhaltung, ich spüre es.
„Halt die Klappe oder ich brech dir eine Hakennase“, gibt Julian zurück.
„Ich brech dir gleich noch was ganz anderes!“, schreie ich wieder.

Hör auf Lilly, das ist der doch nich wert“, versuche ich Lilith zu beruhigen.
„Nein, aber verdient hat er es“, faucht sie.
Ich finde es süß, wie sie sich für mich einsetzt, doch ich weiß, dass es Aufsehen erregen würde, wenn es zu einer Prügelei kommt, denn Lilith würde hoch Haus gewinnen.
„Hörst du was die Tonne sagt?“, lacht Julian, „Hör darauf, was sie sagt, wenn du dich nicht schmutzig machen willst, Prinzesschen.“
Das ist selbst für Lilith’ grenzenlose Geduld zu viel. Ich versuche sie am Arm zu packen, erwische aber nur noch Luft, denn Lilith nährt sich mit schnellen, zornigen Schritten Julian, bleibt stehen und schlägt ihm ins Gesicht. Julian schreit. Von der Wucht des Schlages wird er zu Boden geschmettert. Tara schreit erschreckt auf.
„Oh Gott...“, flüstere ich.
Als ich sehe, wie sich Lilith auch auf Marten stürzen will, packe ich sie auf die einzige Art, mit der man sie nun noch aufhalten kann. Ich umarme sie von hinten um die Brust und drücke sie an mich. Ich kann fühlen, wie es in ihr brodelt, doch sie rührt sich nicht mehr. Der Zorn, der sie erfüllt hat, schwindet.
Wir müssen auf Polizei und Krankenwagen warten. Die Notärzte versichern uns, Julian sei nichts passiert. Nur ein paar blaue Flecken und eine kleine Gehirnerschütterung, wenns hoch kommt. Trotzdem nehmen sie ihn mit, zur Kontrolle.
„Dürfen wir gehen?“, frage ich einen Polizisten nachdem unsere Personalien aufgenommen worden sind.
Er nickt.
„Wenn die Eltern des Jungen deine Freundin nicht anzeigen hat sich die Sache erledigt. Wir brauchen die Personalien nur für unser Strafregister“, beteuert der Polizist.
Ich nicke und ziehe Lilith davon. Tara und ihre Geschwister folgen uns.
Den ganzen Weg nach Hause sagt Lilith kein Wort und mir ist das nur recht. Ich überlege, dass der strahlende Sonnenschein kein bisschen in die Atmosphäre passt. Nicht jetzt und schon gar nicht vor einer halben Stunde. Ich bin sauer auf Lilith und das weiß sie. Wahrscheinlich sagt sie deshalb nichts.
Wir sehen bis in den Abend fern. Etwa um zehn erklärt Lilith sie sei müde und wolle ins Bett gehen. Das ist das erste, dass sie seit dem Nachmittag sagt. Ich nicke.
Als ich später auch zu Bett gehen will, stelle ich fest, dass Lilith nicht in unserem gemeinsamen Doppelbett liegt. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mit ihr geredet habe. Aber ins Gästezimmer zu gehen und sie zu holen traue ich mich auch nicht. So ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schlafe auch kurz danach ein.

Ich liege im Gästezimmer und starre an die Decke. Ob Minachi mich vermisst? Wahrscheinlich nicht. Aber ich vermisse sie. Ich habe lange nicht mehr alleine geschlafen, aber das ist ja eine nette Abwechslung, oder? Nein, eigentlich nicht.
Zornig beiße ich mir in die Hand. Ich bin sauer auf mich selbst und den Rest der Welt. Wieder einmal wünsche ich mir der Zivilisation der Menschen zu entkommen. Allein. Oder vielleicht mir einem guten Freund. Am besten Minachi. Ich stelle mir vor, wie ich Bekanntschaft mit jemandem mache, einem Geschöpf, so alt wie die Welt.
Ich erwache. Um mich herum herrscht immer noch schwarze Nacht. Irgendetwas hat mich geweckt und ich frage mich, was es war. Ich setze mich auf und lausche in die Stille hinein. Nichts. Und doch glaube ich, dass jemand hier ist. Jemand oder Etwas...
„Zeigt Euch!“, sage ich in einem Ton, von dem ich hoffe, er klingt befehlend.
Einen Augenblick lang scheint das Zimmer um mich herum zu verschwimmen, um dann wieder klare Konturen anzunehmen. Vor meinem Bett steht eine Gestalt. Breite Schultern und dürrer Leib, von einem langen Umhang umspielt.
„Wer seid Ihr?“, frage ich weiter.
„Mein Name ist Sven.“
„Wie seid Ihr hier hereingekommen? Ihr seid nicht eingeladen gewesen!“, sage ich.
Natürlich weiß ich, dass Vampire einen Ort, an dem Menschen leben nur betreten können, wenn sie eingeladen sind. Aber ob das nicht nur ein Teil des Mythus ist, der Vampire umgibt? Nur an einem besteht kein Zweifel: Sven ist ein Vampir, ein echter. Er bleckt seine entblößten Eckzähne. Soll wohl ein Grinsen darstellen.
„Du hast mich hereingelassen“, sagt er, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen.
„Nein, das habe ich nicht“, beharre ich.
Immerhin weiß ich jetzt, dass die Geschichte mit dem hineingebeten werden wahr ist. Oder ist das alles nur ein Traum?
Wieder grinst Sven und schüttelt den Kopf wie zur Antwort auf meine gedanklich gestellten Selbstfrage.
„Hast du dir nicht gewünscht, ich würde kommen?“, fragt mich Sven offen.
Ich starre ihn weiter an. Ja, das habe ich wohl. Aber ich habe auch nicht gedacht, dass solche Fantasiegeschöpfe existieren.
Sven lässt sich auf meiner Bettkante nieder. In den Schatten der Nacht kann ich sein Gesicht kaum erkennen. Aber das ist mir auch nicht wichtig. Sven nimmt mich in den Arm. Ich setze mich nicht zur Wehr, lasse es einfach geschehen. Alles. Wie er mein Kinn sanft nach oben drückt und über meinen Hals streicht, wie er sich immer tiefer zu mir hinabbeugt, bis ich seinen Atem auf der Haut spüren kann und wie sich seine spitzen Eckzähne langsam in meinen Hals bohren. Während seine Zähne mein Fleisch zerschneiden leide ich schreckliche Qualen, aber dann ist es schön. Wärme erfüllt mich und als ich mir nun klarmache, wie Sven mein Blut trinkt, steigt meine Glückseeligkeit ins Unermessliche. Ich bekomme nicht mehr mit, wie Sven seine Zähne aus meinem Hals zieht. Ich bin vor Erschöpfung und Behaglichkeit in meine Traumwelt hinübergeglitten.
Ich bin in einem dunklen Raum, in dem ich jedoch jeden Schatten durchdringen kann. Meinem Traum fehlt jede Farbe und doch kein Funken Realität. Sean steht mir gegenüber. Er schreit mich an. Er sagt irgendetwas, das für mich keinen Sinn ergibt und auf das ich deshalb auch nicht genauer achte. Dann schlägt er mich. Mit der Faust ins Gesicht. Es tut nicht weh und doch schreit mein Herz vor Schmerz.
Erschreckt fahre ich hoch und finde mich im Gästezimmer wieder. Genau dort, wo ich auch sein sollte: In Minachis und meiner Wohnung.

Lilith kommt in die Küche getapert. Tapern ist das richtige Wort. Sie ist noch im Nachthemd und total zerwühlt. Mich wundert es, dass sie überhaupt aufgestanden ist, ohne dass ich sie geweckt habe.
„Morgen“, gähnt sie und greift nach der Kaffeekanne.
„Du siehst krank aus“, stelle ich fest.
Tatsächlich ist Lilith ziemlich blass, noch blasser als sonst.
„Mir geht’s gut“, lacht sie.
Das klingt in meinen Ohren zwar extrem ehrlich, aber ich glaube ihr trotzdem nicht. Ich glaube, die Sache gestern hat sie ganz schön fertig gemacht, darum beschließe ich es einfach zu vergessen.
„Na gut“, sage ich, „Aber beeil dich mit dem Anziehen, heute ist Montag.“
„Hä?“, macht Lilith.
„Montag, Schule, verstehst du?“, gestikuliere ich.
Ein herzhaftes Gähnen ist ihre Antwort.
„Na schön“, sagt sie schließlich, als sie ihren Kaffee ausgetrunken hat, „Ich spring schnell unter die Dusche.“
„Da musst du aber wirklich schnell sein“, sage ich mit einem Blick auf die Küchenuhr.
Sie zwinkert mir zu und verschindet im Bad.
Eine Viertelstunde später steht sie frisiert und angezogen auf der Matte, ihre Schulmappe in der Hand. Wieder einmal staune ich über ihre Zeiteinteilung.
„Lass uns gehen“, trillert Lilith für diese Uhrzeit ungewöhnlich aufgeweckt.
Wir steuern auf unseren Spind zu.
„Mathe“, stöhnt Lilith.
Für mich ist sie ein wandelnder Stundenplan. Ich nehme das Mathebuch aus meinem Spind.
„Hey, habt ihr schon ans schwarze Brett geguckt?“
Ich fahre herum. Hinter mir und Lilith steht Marceline, auch in unserer Klasse.
„Wieso, was gibt’s?“, fragt Lilith.
„Wir haben einen neuen Lehrer, ein Student“, berichtet Marceline froh etwas zu wissen, das wir noch nicht gewusst haben.
„Oh“, sage ich, „Stimmt ja, der alte Zacken ist ja in Pension.“
‚Der alte Zacken’ ist Herr Zacken, unser alter Mathelehrer.
„Dann haben wir ihn ja jetzt!“, spricht Lilith das aus, was Marceline und ich auch längst klar ist. Darum antwortet ihr niemand.
„Naja, bis später dann“, verabschiedet sich Marceline und geht den Gang entlang.
Ihr Spind ist auf der anderen Seite.
„Denk nach dem Unterricht an die AG“, erinnert mich Lilith.
„Klar“, sage ich.
Wie könnte ich das auch vergessen? Es ist eine Art Theater-AG mit Theater, Gesang und Tanz. Lilith grinst mich an. Dann gehen wir Seite an Seite in den Klassenraum, in dem Matheunterrichtet wird.
Noch zehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Tara ist noch nicht da, aber sie kommt immer erst in letzter Sekunde, darum wundert sich auf niemand.
Wie alle Räume in der Schule ist auch der Matheraum mit Einzeltischen ausgestattet. Sehr lästig, wenn man sich unterhalten will, aber dazu sind diese Tische ja schließlich gedacht: Um das Schwatzen einzuschränken. Ich lasse mich auf dem Platz neben Lilith sinken, genau wie immer. Taras Platz ist hinter mir und Marcelines rechts neben mir. Links neben Lilith ist ein leerer Platz und ich glaube, das ist ihr auch ganz recht. Zwei Minuten vor Unterrichtbeginn betritt Tara den Raum.
„Tach ihr“, begrüßt sie uns und beginnt sofort, sich ausgelassen mit Marceline über unsere Lehrer zu unterhalten.
Lilith ist seitdem wir den Klassenraum betreten haben ganz still. Nun lehnt sie sich nach rechts zu meinem Tisch und berührt mit ihrer Hand die Meine. Sie öffnet den Mund, anscheinend hat sie mir etwas zu sagen, das die anderen nichts angeht.
Doch in diesem Moment klingelt es zur Stunde und die Tür öffnet sich. Alle wenden die Köpfe zur Tür. Es ist der neue Lehrer. Er ist wirklich sehr jung. Genau richtig für uns. Ich lache in Gedanken. Er wird sicher der Highschoolschwarm Nummer eins. Sieht ja auch gar nicht so schlecht aus. Er trägt einen förmlichen Anzug. Seine grauen Augen reflektieren das Licht der Deckenbeleuchtung. Dazu sein schwarzes Haar, ein Traum. Nur ein wenig zu bleich für meinen Geschmack. Genauso bleich wie Lilith.
Apropos Lilith. Ich bemerke erst jetzt wie sie den Kerl anstarrt. Natürlich ist er genau ihr Fall. Aber eigentlich ist es nicht ihre Art jemanden so anzustarren.
Der Lehrer geht vor und stellt sich hinter das Pult.
„Mein Name ist Herr Obscurité“, erklärt er und schreibt seinen Namen an die Tafel.
„Sind Sie Franzose?“, fragt ein Mädchen und steht auf.
Herr Obscurité lächelt und nickt: „Im Ursprung.“
Ich lausche genau auf jedes Wort und mir fällt auf, dass er mit kaum hörbaren Akzent spricht. Er klingt aber, soweit ich das beurteilen kann, nicht französisch. Eher als hätte er sein Leben in Bulgarien oder Rumänien verbracht. Aber vielleicht ist der Familienstamm in Frankreich. Oder er ist einfach viel herumgekommen.
Das Mädchen, dass gesprochen hat, setzt sich wieder und Herr Obscurité leitet die Mathestunde ein. Er macht auf mich einen sehr sympathischen Eindruck.

Nach der Mathestunde verschwinde ich auf der Toilette. Meine Hände zittern und als ich mich im Spiegel betrachte, bemerke ich, wie krank ich aussehe. Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar. Wieso ist er hier? Wieso hier? Wieso gerade heute? Etwa meinetwegen? Nein, ganz und gar unmöglich. Ein Vampir wie er hat sicher besseres zu tun als ein kleines Highschoolmädchen zu beschatten.
Ich schiebe mein Haar beiseite um meinen Hals genau unter die Lupe zu nehmen. Unverkennbar. Zwei mit verkrustetem Blut versiegelte Einschnitte an der rechten Halsseite. Es kann kein Traum gewesen sein. Ich habe Minachi vor der Stunde davon erzählen wollen. War es wirklich ein Zufall, dass der neue Mathelehrer in dieser Sekunde zur Tür hereinkam?
Mein Magen rumort. Ich sterbe vor Hunger. Eigentlich esse ich morgens nie etwas.
Ich lege meinen Kopf in den Nacken, um meinen Hals besser betrachten zu können. In diesem Augenblick öffnet sich die Toilettentür. Ich wende mich blitzschnell um. Mein ganzer Körper ist angespannt. Doch als ich erkenne, wer hereingekommen ist, entspanne ich mich wieder. Es ist Minachi. Sie wirkt auf mich seltsam. Irgendwie ängstlich. Sofort drehe ich mich wieder zum Spiegel um.
„Ich prüfe mein Make-up“, sage ich erklärend.
Ich sehe im Spiegel wie sie nickt, dann lasse ich die Schultern hängen.
„Wieso bist du hier?“, frage ich bedrückt.
„Ich habe dich gesucht. Die Stunde hat längst angefangen!“, erklärt sie mir und fuchtelt wild mit den Armen.
„Und wieso bist du dann nicht im Unterricht?“, frage ich unbeeindruckt.
Ich bin gemein zu ihr und dafür hasse ich mich.
„Ich? Was ist denn mit dir?“, fragt sie und starrt mich verblüfft an.
Ich drehe mich wieder zu ihr um.
„Ich habe das nicht so gemeint“, versuche ich mich zu erklären.
Minachi seufzt und setzt sich auf die Anrichte neben das Waschbecken.
„Du bist so seltsam“, sagt sie ohne mich anzusehen.
„Ich...“, beginne ich, breche dann jedoch ab.
„Das ist es, was ich dir vorhin im Klassenraum sagen wollte...“, setze ich erneut an, doch wieder werde ich unterbrochen.
Eine schrille Sirene hallt durch die Schule.
„Feueralarm!“, ruft Minachi, springt von der Ablage, packt mich am Arm und zieht mich aus der Toilette auf den Hof.
Allmählich trudeln alle Schüler auf dem Hof ein und stellen sich nach Klassen auf. Das Geschwätz der Schüler klingt wie ein einziges lautes Rauschen in meinen Ohren. Der Lärm ist mir fast noch unerträglicher als die Sirene. Zu meiner Verblüffung ist es nicht unser Klassenlehrer, der das Klassenbuch hochhält, damit sich unsere Klasse bei ihm versammelt, sondern Herr Obscurité. Langsam glaube ich nicht mehr an Zufälle.
Natürlich stellt sich heraus, dass es sich um falschen Alarm gehandelt hat. Als nun alle Schüler zurück in die Schule gehen und mir niemand Beachtung schenkt, packt mich Herr Obscurité an der Schulter. Ich starre ihn verwundert an.
„Du solltest deine Hausarbeiten gründlicher erledigen“, teilt er mir unnötig laut mit.
Ich reibe mir kurz über die Ohren.
„Es gibt ein Abkommen des Schweigens“, flüstert er mir schließlich ins Ohr.
Und dann fügt er wieder laut hinzu: „Ich möchte dich nach dem Unterricht noch einmal in meinem Büro sprechen. So kann es mit deinen Hausarbeiten gewiss nicht weitergehen.“
Dann wendet er sich ab und geht ebenfalls in die Schule. Ich stehe noch einige Sekunden wie bestellt und nicht abgeholt da. Dann gehe ich ebenfalls in meine Klasse.
Ich klopfe an die Tür von Herr Obscurités Büro.
„Komm rein“, antwortet er mir und ich folge der Aufforderung.
„Setz dich“, sagt Herr Obscurité, als ich vor seinem Schreibtisch stehe.
Wieder tue ich, wie geheißen.
„Zeig mir deinen Arm“, befielt er weiter.
„Was?“, frage ich verblüfft.
„Bitte“, setzt er höflich nach.
„Okay“, sage ich langsam und lege den rechten Arm auf den Schreibtisch.
Ein Reflex. Herr Obscurité nimmt meine Hand und dreht meinen Arm um, sodass die Innenseite oben liegt. Seine Finger sind kalt. Wie aus Eis gemeißelt. Nein, wie tot.
Herr Obscurité lächelt belustigt. Er liest schon wieder meine Gedanken. Das ärgert mich.
Er fährt mit dem Zeigefinger über die angeschwollene Stelle an meinem Arm. Ich habe mich
vorgestern gebissen, um meinen Durst zu stillen. Zu meinem Ärger hat es nicht geblutet und trotzdem ist die Wunde weitläufig entzündet. Es ist mir sehr peinlich.
Herr Obscurité beugt sich über meinen Arm und setzt seine kalten Lippen auf meine Wunde. Ich schaudere. Er saugt an meiner Wunde. Was macht er da und wieso?
Nach etwa einer Minute lässt er von meinem Arm ab.
„Du darfst dich nicht selbst beißen. Der eigene Speichel ist für Vampire giftig“, erklärt er mir wie ein Grundschullehrer, der seinen Schülern erklären muss, dass eins und eins zwei ergibt.
Ich nicke.
„Du könntest daran sterben“, erklärt er mir etwas eindringlicher.
Ich nicke erneut.
Er lehnt sich in seinen Lehnstuhl zurück und überschlägt die Beine.
„Herr Obscurité?“, frage ich, nach einigen Minuten des Schweigens.
„Mh?“, macht er.
„Nenn mich Sven, bitte“, setzt er hinzu.
„Kann ich gehen?“, frage ich weiter.
Sven nickt. Ich stehe auf und wende mich der Tür zu.
„Lilith?“, ruft mich Sven noch einmal zurück.
Ich drehe mich wieder zu ihm um.
„Denk an das Abkommen des Schweigens“, ermahnt er mich augenzwinkernd.
Wieder nicke ich und verlasse dann das Büro.

Lilith kommt erst spät nach Hause. Später als ich sie erwartet habe. Ich weiß, sie musste nach der Schule noch in Herr Obscurités Büro kommen, doch das kann unmöglich so lange gedauert haben. Ich will sie tadeln, doch ich kann nicht. Sie sieht so krank aus. Ich merke wie aus meinem bösen Blick ein bemitleidendes Lächeln wird. Lilith hebt eine Augenbraue und starrt mich ausgesprochen sauer an. Sie hasst Mitleid, habe ich ganz verdrängt. Lilith setzt sich an den Küchentisch. Ich gehe zum Kühlschrank um ihr die Reste vom Mittagessen zu bringen.
„Ich habe keinen Hunger“, sagt sie matt und so halte ich inne.
Plötzlich fällt es mir wieder ein. Sie wollte mir heute zwei Mal etwas erzählen. Es schien ziemlich wichtig gewesen zu sein.
„Was wolltest du mir heute in der Schule eigentlich sagen?“, frage ich sie und setze mich ihr gegenüber.
Zu meiner Überraschung schüttelt sie nur abweisend den Kopf.
„Du wolltest es mir doch so dringend sagen“, sage ich überredend.
„Nein, vergiss es“, grummelt sie. Ihr genervter Tonfall klingt gespielt.
Ich kann mir nicht helfen, ich glaube immer noch, sie würde es mir gerne sagen, also versuche ich es noch einmal: „Ich sag’s auch nicht weiter, das weißt du doch.“
Wieder schüttelt sie den Kopf und steht auf.
„Lilly“, seufze ich.
„Hm?“, macht sie und wendet sich noch einmal zu mir um.
„Pass auf dich auf.“
Sie lächelt matt und verlässt die Küche. Sicher geht sie ins Bett. Mein Weg führt mich jedoch zunächst zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich vor den Fernseher fallen lasse. Ich starre auf die Mattscheibe, doch eigentlich sehe ich gar nicht hin. Was ist bloß mit Lilith los? Wenn ich mich recht entsinne hat sie den ganzen Tag nichts gegessen. Sie ist verdammt blass und dann noch das Treffen mit unserem neuen Mathelehrer wegen ihrer Hausarbeiten. Sie erledigt ihre Hausarbeiten immer in Schönschrift, das weiß ich genau. Und wieso will sie mir plötzlich nicht mehr erzählen, was sie doch so dringend loswerden wollte? Die Lösung ist zum Greifen nahe, doch ich komme einfach nicht drauf. Schließlich stehe ich auf und mache die Flimmerkiste aus. Nach dem gedankenverlorenen Zähneputzen gehe ich in Lilith’ und mein Schlafzimmer. Ich bleibe verblüfft in der Tür stehen. Lilith liegt wieder nicht im Bett. Wieso nur? So leise ich kann gehe ich zum Gästezimmer hinüber und drücke die Tür einen Spalt weit auf und spähe in das dunkle Zimmer. Ich kann nicht viel erkennen. „Lilly?“, flüstere ich. Ich erhalte keine Antwort. Ich warte noch gut eine Minute, dann betätige ich den Lichtschalter. Ich bin kurz geblendet, doch dann habe ich wieder klare Sicht. Das Gästebett ist leer. Panik steigt in mir auf. „Lilly?“, frage ich in die Stille.
Raschen Schrittes gehe ich alle Räume ab. Küche, Bad, Wohnzimmer. Nichts. Arbeitszimmer, Schlafzimmer und noch einmal das Gästezimmer. Wieder nichts. Ich stürze zum Telefon und nehme den Hörer ab. Aber wen soll ich anrufen? Die Polizei? Nein. Ich greife nach dem Adressbuch in der Schublade unter dem Telefon. Ich schlage das kleine Buch auf, wobei mein Blick auf meine Zitternden Hände fällt. Ich schlucke krampfhaft und blättere das Buch suchend durch, bis ich zum Buchstaben Z gelange. Die Auswahl der Personen, die ich jetzt anrufen könnte ist nicht besonders groß. Ich muss jemanden finden, dem sich Lilith anvertrauen würde. Unsere Schulfreunde fallen damit natürlich aus der Auswahl. Hoffnungslos starre ich auf die Seite. Unter Z ist nur eine Person ein getragen. Zensen. Sean Zensen. Hastig drücke ich die Nummerntasten des Telefons.

Was ist das nun schon wieder? Verärgert trete ich gegen meinen Rechner. Augenblicklich wird der Bildschirm schwarz. Na ganz toll, jetzt geht gar nichts mehr. Vor mich hin fluchend haste ich zum Telefon. Nicht auflegen, leg nicht wieder auf!
„Hier Zensen“, schnaufe ich in den Hörer.
Das Mädchen am anderen Ende der Strippe fragt mich, ob ich Sean bin.
„Nein, ich tu nur so“, grummele ich, „Nein im Ernst, wer bist du überhaupt?“
Das Mädchen erklärt mir, sie hieße Minachi und wäre Lilith’ Mitbewohnern. Mein Herz bleibt stehen.
„Ist was mit Lilly?“, frage ich und versuche vergeblich die Panik aus meiner Stimme zu verbannen.
Wieso habe ich solche Angst um sie? Wir sind schließlich nicht mehr zusammen. Minachi erklärt mir, Lilly sei verschwunden. Da sie sich in letzter Zeit sehr seltsam verhalten habe, mache Minachi sich große Sorgen um sie. Beinahe wäre mir der Hörer aus der Hand gefallen.
„Sag mir wo du wohnst, ich komme sofort“, versichere ich ihr. Minachi sagt mir ihre Adresse.
„Bis dann“, sage ich hastig und lege auf.
Ich werfe mir meinen Mantel über, stecke mir den Haustürschlüssel in die Hosentasche und bin schon aus der Tür. Minachis Straße ist nicht sehr weit entfernt. Ich bemerke kaum, dass ich renne.

Ich beuge mich über die Brüstung der kleinen Brücke und starre auf das schwarze Wasser hinab, in dem sich das Licht einer Straßenlaterne und die Lichter eines Mehrfamilienhauses spiegeln. Der Wind zerwühlt mein Haar und bringt mich zum Schaudern. Was ist nur mit mir los? Wieso bin ich eigentlich hier? Ich vernehme ein leises Rascheln und fahre herum. Mein Herz bleibt vor Schreck eine Sekunde lang stehen. Hinter mir steht Sven. Sein schwarzer Umhang flattert im Wind und umspielt seine Konturen, sodass er merkwürdig unwirklich wirkt. „Seid Ihr schon lange hier?“, frage ich ihn. Er lächelt auf seine schaurige Art und präsentiert mir seine scharfen Eckzähne. „Wie fühlst du dich?“, fragt er. Stellt er mir einfach eine Gegenfrage, ohne mir vorher zu antworten. Wie unhöflich. Ich antworte trotzdem: „Wie man’s nimmt.“ „Mh?“, macht er herausfordernd. „Eigentlich fühl ich mich super, aber irgendwie auch nicht“, versuche ich es ihm zu erklären. Ich merke selber wie dumm das klingt. Zu meiner Verblüffung nickt er verständnisvoll. Ohne Vorwarnung streckt er seinen Arm aus und streichelt meinen Hals. Da ich das nicht erwartet habe, zucke ich unwillkürlich zusammen. Svens Hand ist einskalt, trotzdem genieße ich seine Berührung. Ich neige meinen Kopf herausfordernd nach rechts, sodass mein Hals da, wo Sven ihn berührt gestreckt wird. Ich beobachte ihn genau. Wieder lächelt er. Er nimmt die Hand von meinem Hals und schiebt mein Haar bei Seite. Ich schließe meine Augen und fühle, wie Sven mich an sich zieht. Er hält mich nur an der Hüfte, sodass mein Körper leicht nach hinten geneigt ist und mein Kopf automatisch in den Nacken fällt. Ich halte mich vorsichtshalber an seinem Rücken fest. Ich spüre wie er sich meinem Hals nährt, dann seinen Atem auf meiner Haut. Der anschließende stechende Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen. Ein Schrei. Habe ich geschrieen? Nein, unmöglich. Habe ich mir das eingebildet? Doch dann setzt mein Denken aus. Ich werde von diesem herrlichen Gefühl übermannt, das ich auch das letzte Mal verspürte. Es ist als wären Zeit und Raum plötzlich sinnlos und unbedeutend. Ich dämmere vor mich hin, bis Sven seine Zähne aus meinem Hals zieht. Da dies wieder schmerzt, kneife ich die Augen zusammen. Ich fühle mich zu schwach um auch nur die Augen zu öffnen. Und das obwohl ich das Gefühl habe, Sven hätte dieses Mal viel kurzer von meinem Blut getrunken. Ich fasse mir ein Herz und zwinge mich die Augen zu öffnen.
Sven knöpft sich mit einer Hand das weiße Hemd ein kleines Stück auf. Dann ritzt er sich mit seinem spitzen Fingernagel einen tiefen Riss in die Brust, aus dem Augenblicklich satt rotes Blut tropft. Er legt seine Hand hinter meinen Kopf und führt ihn zu der blutigen Wunde. Ich bin zu schwach um ihm dabei behilflich zu sein. Sanft drückt er meinen Mund an seine Brust. Dankbar trinke ich sein Blut.
Sven lässt mich lange trinken. Erstaunlicherweise hört die Wunde nicht auf zu bluten. Erst als ich mich satt in Svens Umarmung zurücklehne, heilt sie so schnell, dass ich es mit bloßem Auge beobachten kann. Sven nimmt mich auf den Arm. Er ist wirklich sehr stark. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragt er mich. Ich schüttele matt den Kopf. Was würde Minachi denken? Sie macht sich sicher jetzt schon große Sorgen. Und ich darf ihr nichts erzählen. Sicher ist es besser, wenn ich einfach weg bin. Verschwunden. Und nie zurückkomme.
Sven geht in genau die entgegengesetzte Richtung, von der, aus der ich gekommen bin und das ist mir ganz recht. Doch ich bemerke nicht mehr, wo wir ankommen, da ich schon einige Minuten später in einen tiefen Schlaf hinübergleite.

Ich zittere am ganzen Körper. Sean und ich kauern an der Uferböschung der Leine. Er hat mich zur Seite gestoßen, nachdem ich vor schreck laut aufgeschrieen hatte. Unser neuer Mathelehrer, der über Lilith herfällt – wer hätte da nicht geschrieen? Ich bin trotzdem froh, dass mich Sean zur Seite gestoßen hat. Ich weiß nicht ob ich mir das eingebildet habe, aber Herr Obscurités Zähne wirkten auf mich ungewöhnlich spitz. Vielleicht drehe ich auch nur langsam durch.
„Glaubst du an Vampire?“, fragt Sean mich.
Ich starre ihn an.
„Ich meine echte. Solche, die sich in Fledermäuse verwandeln und so“, setzt er nach.
Ich lache halbherzig: „Natürlich nicht!“
„Dann solltest du damit anfangen“, erklärt Sean bitter und steht auf.
Ich tue es ihm nach. „Grasflecken auf meinem Mantel“, höre ich ihn leise jammern und muss grinsen. Auch wenn mir in dieser gruseligen Atmosphäre eher zum Heulen zu Mute ist. Sean steht nun auf der kleinen Brücke und sieht sich um.
„Sie sind da lang gegangen“, sage ich und zeige nach vorn.
„Nichts wie hinterher“, befiehlt er.
Mir bleibt nicht einmal die Zeit mich über seine kommandierende Art zu beschweren, da Sean sofort losrennt. Also folge ich ihm. Es dauert nicht lange und wir kommen an eine Kreuzung. Das ist ja vorauszusehen gewesen.
„Und jetzt?“, will ich wissen und blicke nach links und rechts.
„Wir teilen uns auf“, beschließt Sean.
„Die Stadt ist riesengroß, so finden wir sie nie“, erinnere ich ihn verzweifelt und lasse mich auf die Bank an der Straßenecke fallen.
„Scheiße!“, flucht Sean laut und tritt gegen einen Stein, der gegen eine Straßenlaterne fliegt und zurückprallt.
„Machst du dir solche Sorgen um Lilly?“, hake ich vorsichtig nach. Das interessiert mich sehr.
„Hm“, macht er.
Ich interpretiere das als ja. Wieso hat er Lilith verlassen, wenn er sich noch derart um sie sorgt? Natürlich mache ich mir auch Sorgen. Was, wenn Sean recht hat und Herr Obscurité wirklich ein Vampir ist? Ein Echter? Aber was sollen wir tun? Die Polizei rufen können wir schlecht.
„Rufen wir die Polizei“, sagt Sean unvermittelt.
Ich starre ihn an.
„Was?“, fährt er mich an.
„Was willst du denen denn erzählen? Ein wildgewordener Vampir hat Lilly entführt? Ha ha“, fauche ich zurück.
„Natürlich nicht“, erklärt mir Sean wieder ganz ruhig, „Wir sagen einfach, wir hätten gesehen, wie ein Mann Lilly entführt hat. Das ist schließlich die Wahrheit.“
„Genial“, sage ich verblüfft.
„Jaja“, erwidert er abweisend und zieht ein Handy aus der Hosentasche. Er erzählt der Polizei alles über Lilly.
„Und?“, frage ich, als Sean aufgelegt hat.
„Sie meinten sie leiten eine Fandung ein. Morgen soll jemand zu dir kommen, der ein Phantombild erstellt“, erklärt Sean mir.
„Du wusstest noch wo ich wohne?“, frage ich erstaunt.
„Kannste mal sehen“, gibt Sean zurück, „Ich gehe jetzt nach Hause, ruf mich an, wenn’s was neues gibt.“
Sean fährt sich noch ein mal nervös durchs Haar und geht dann in die Dunkelheit davon. Auch ich trete den Heimweg an. Ich frage mich, ob Herr Obscurité morgen zum Unterricht erscheint.

Ich erwache in vollkommener Dunkelheit. Es dauert keine fünf Sekunden bis meine Augen jeden Schatten des Zimmers durchdringen. Ich bin allein. Verwundert stelle ich fest, dass ich starkes Verlangen nach Blut habe. Dabei habe ich bevor ich eingeschlafen bin so viel getrunken, wie nie zuvor. Mein Kopf schmerzt und so lege ich mich wieder hin. Plötzlich stelle ich fest, dass ich nicht in einem Bett liege, wie ich es erwartet habe, sondern in einem Sarg. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, doch trotzdem kommt es mir heimisch vor. Der Sarg ist mit dunkelrotem Samt ausgekleidet und nun fällt mir auf, wie stark er nach Sven riecht. Ich wüsste gerne wo ich hier bin, aber ich bin sehr müde und schlafe schnell wieder ein.
Als ich das nächste Mal erwache, fällt es mir sofort auf. Irgendetwas hat sich verändert. Ich blinzele. Ich bin nicht mehr allein. Auf einem Stuhl neben dem Sarg sitzt Sven und schnitzt an Etwas. Als ich mich aufsetze, schaut er zu mir hinüber.
„Hast du Hunger?“, fragt er mich.
Ich bin nicht sicher was ich antworten soll. Ich habe keinen Hunger, keinen richtigen Hunger. Ich habe Blutdurst. Aber vielleicht meint er das ja?
„Ja“, antworte ich schließlich.
Sven nickt und steht auf. Ein gleißendes Licht erfüllt den Raum und ich muss meine Augen mit meinem Arm vor dem Licht schützen. Da ich einen leichten kalten Hauch auf der Haut spüre, bin ich mir sicher, dass er einen Kühlschrank geöffnet hat. Nun kommt Sven zu mir zurück und hält mir etwas entgegen.
„Was ist das?“, frage ich und hoffe, dass es nicht das ist, für was ich es halte.
„Ein Hase“, sagt Sven schlicht und gibt ihn mir in die Hand.
„Ein Hase?“, frage ich verblüfft.
„Ja. Du kannst nicht jeden Tag einen Menschen haben“, erklärt mir Sven.
Er beobachtete mich belustigt. Ich seufze.
„Wie schmeckt das?“, will ich zweifelnd wissen.
„Probier es, dann weißt du es“, grinst Sven.
Als ich ihn nur weiter verblüfft anstarre fügt er hinzu: „Nicht viel anders als Menschenblut, koste!“
Ich beuge mich immer noch unsicher über den Hasen. Dann entblöße ich meine scharfen Eckzähne und beiße zu. Das Blut des Hasen schmeckt schwer und ein bisschen bitter, aber ich beklage mich nicht. Ich würde es niemals zugeben, aber ich fühle mich gut dabei. Sven beobachtete mich, während ich trinke, ich kann es fühlen. Als sich kein Blut mehr in dem Hasen befindet, hebe ich den Kopf und lecke mir das Blut von den Lippen. Jetzt, da ich geendet habe, fühle ich mich als Mörder.
„Er war doch schon vorher tot“, versucht mich Sven zu trösten.
Er hat wieder einmal meine Gedanken gelesen, keine Frage. Ich seufze.
„Ich habe ihm das Genick gebrochen, er hat nicht gelitten“, erklärt mir Sven und wendet sich wieder seiner Schnitzarbeit zu, „Kein anständiger Vampir lässt ein Tier leiden.“
„Gibt es denn Vampire, die nicht anständig sind?“, frage ich verblüfft.
Sven lacht. „Natürlich. Genauso wie es Mörder unter den Menschen gibt, gibt es auch Verbrecher unter uns. Ich könnte die Schande nicht ertragen, würde meine Tochter ein böser Vampir werden.“
„Deine Tochter?“, will ich wissen.
Ich verstehe nur Bahnhof.
Wieder lacht Sven: „Die Menschen, denen wir die Unsterblichkeit schenken, sind unsere Kinder. Wir müssen sie führen, bis sie gelernt haben sich in unserer Welt zurechtzufinden. Und du musst noch eine ganze Menge lernen, Lilith.“
„Können wir ihn begraben?“, frage ich unvermittelt.
Ich rede von dem kleinen Hasen, der immer noch leblos in meinen Armen liegt. Aber ich weiß genau, dass Sven weiß wovon ich rede.
„Wenn das dein Wunsch ist“, antwortet Sven und steht auf, „Folge mir.“

Nach der Schule war eine Polizistin bei mir. Ich habe ihr von Herr Obscurité erzählt. Er war heute morgen tatsächlich in der Schule und hat unterrichtet, als wäre nichts gewesen. Natürlich wollten Marceline und Tara wissen, wo Lilith steckt. Ich habe es ihnen erzählt. Ohne dieses eine kleine Detail natürlich. Sie wissen nichts von Herr Obscurité und davon, dass er ein Vampir zu sein scheint. Ich lasse mir ein heißes Bad ein und lege mich in die Wanne. Ich habe lange nicht mehr gebadet, immer nur geduscht. Ich vermisse Lilith an meiner Seite. Sie hätte wäre jetzt sicher rein gekommen und sich zu mir in die Wanne gesetzt, mich von hinten umarmt und gefragt, was mit mir los sei. Sie war manchmal launisch, das schon, aber eigentlich immer lieb und herzensgut. Ich muss weinen. Irgendwas in mir sagt mir, dass ich sie nie wieder sehen werde.
Am nächsten morgen gehe ich sehr geknickt zur Schule. Ich habe nicht viel geschlafen. In der Schule kommen mir Marceline und Tara entgegen. Sie sehen sehr fröhlich aus. Ich kann das nicht verstehen. Plötzlich kommt mir der wirre Gedanke in den Sinn, dass sie mir nicht glauben.
„Heute so schlecht drauf? Du bist doch sonst so fröhlich“, meint Marceline, öffnet meinen Spind und wirft mir meine Mathesachen in die Arme.
„Mathe?“, will ich entsetzt wissen.
„Jap, Mathe“, bestätigt Tara, „Lilith kommt sicher bald wieder. Sie hat sich sicher bei irgend wem abgesetzt, wäre ja nicht das erste Mal.“
„Aber doch nicht ohne etwas zu sagen! Ich glaube ihr habt mich nicht richtig verstanden. Lilly wurde entführt! Soll ich euch das schriftlich geben?“, schreie ich.
Dann stapfe ich an ihnen vorbei in den Klassenraum. Sie wollen es einfach nicht begreifen. Natürlich bleibt Lillys Platz neben mir leer.
Herr Obscurité erscheint pünktlich zur ersten Stunde im Klassenraum und klärt uns über den angeblichen Zauber der Trigonometrie auf. Doch mitten in der Stunde geschieht etwas Unerwartetes. Ohne zu klopfen wird die Tür des Klassenraumes aufgestoßen und zwei Polizisten kommen herein. Sofort bricht in der Klasse ein riesiger Tumult aus. Jeder scheint mit jedem zu schwatzen. Der Zauber, der die Klasse während der Mathestunden bei Herr Obscurité immer zum Schweigen bringt, ist gebrochen.
„Wir müssen Sie vernehmen“, höre ich einen der Polizisten sagen.
„Können Sie sich bis nach der Stunde gedulden, meine Herren?“, fragt Herr Obscurité die Polizisten.
„Nein. Nach Angaben eines Mädchens haben wir ein Phantombild erstellt, das genau zu Ihnen passt. Sie könnten an der Entführung einer Schülerin dieser Klasse beteiligt sein“, sagt der andere Polizist.
Ich kann sehen wie sich der eine Polizist anschickt, Herr Obscurité Handschellen anzulegen.
„Ich komme mit“, sagt Herr Obscurité beschwichtigend. Und so verlässt Herr Obscurité in der Mitte der Polizisten den Klassenraum. Ich weiß nicht ob ich es mir eingebildet habe, aber ich könnte schwören, dass mir Herr Obscurité im Vorbeigehen einen zornigen Blick zugeworfen hat.
Der Rest des Schultages verläuft recht ereignislos. Nach der Schule verabschiede ich mich halbherzig von Marceline und Tara und mache mich allein auf den Heimweg. Allein. Genau wie gestern – allein.

Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab. Ich habe meinen Rechner immer noch nicht repariert, aber ich muss zugeben, dass ich es auch noch gar nicht versucht habe. Ich kann nicht mehr klar denken. Jeder Gedanke wird von der Sorge um Lilly weggespült. Ich packe meinen Mantel und verlasse die Wohnung. Nur raus hier. Wo immer mich meine Beine hintragen mögen. Wie nicht anders zu erwarten war, tragen sie mich auf direktem Wege in den Park. Ein Frühlingstag – nicht anders als die vorhergegangenen Tage, strahlender Sonnenschein. Ich gehe an einer Parkbank vorbei. Dann bleibe ich stehen und sehe zurück. Auf der Bank sitzt Minachi. Ich gehe zu ihr.
„Hallo“, sage ich missgelaunt.
Sie antwortet mir nicht.
Ich nehme es ihr nicht übel und setze mich neben sie.
„Hm?“, macht sie nach einer Weile und starrt mich an.
„Was?“, will ich wissen.
„Seit wann bist du denn da?“, fragt sie verblüfft.
Ich kann nichts weiter tun als sie erstaunt anzustarren.
„Ach Sean“, sagt sie nach einigen weiteren Sekunden fiebrig, „Ich muss dir was erzählen!“
Ich schaue sie interessiert an und warte auf ihr Fortfahren.
„Heute in der Schule war ein Aushang am schwarzen Brett. Die Aktivitäten in der Sporthalle fallen heute Nachmittag aus. Heute Abend ist geschlossene Gesellschaft!“, berichtet sie mir aufgeregt.
„Ja...Und?“, frage ich wieder desinteressiert.
„Unser neuer Mathelehrer leitet die Veranstaltung! Du weißt schon, der Vampir der...“
„Pst!“, fahre ich ihr dazwischen, „Schon gut, ich hab’s kapiert. Hast du heute Abend schon was vor?“
„Eigentlich nicht“, sagt sie langsam.
„Gut, dann werden wir deiner Schule heute Abend einen kleinen Besuch abstatten. Wann fängt das an?“, will ich von ihr wissen.
„Um 10. Aber wie kommen wir da rein? Und was machen wir, wenn dort nur Vampire sind? Sie mit einem Bleistift erstechen?“, fragt mich Minachi.
„Lass das mal meine Sorge sein. Du gehst auf die Highschool, nicht wahr?“, frage ich siegessicher.
„Ja, genau“, meint sie. Sie wirkt immer noch recht perplex.
„Gut, dann um 15 vor 10 an der Hintertür der Sporthalle. Ich kenn’ mich aus, war schon öfter da“, sage ich, stehe auf und gehe davon.
Ich will nach Hause, es gibt noch viel vorzubereiten.

Mhhhh!“, mache ich und öffne verschlafen ein Auge. Sven hat mich geschüttelt und zieht nun seine Hand von meiner Schulter.
„Ist wer gestorben?“, grummele ich. Sven weckt mich sonst nie so früh.
Eigentlich hat er mich noch nie geweckt. Er grinst mir entgegen: „Würde ich dich wecken, wäre jemand gestorben?“
Ich grinse zurück.
„Das ist etwas gewöhnungsbedürftig“, erkläre ich ihm.
Er nickt.
„Du wirst heute Abend der Gesellschaft vorgestellt“, erklärt er mir.
„AUUU verdammt!“, schreie ich.
Ich habe mir vor Aufregung die Zunge an meinem Eckzahn aufgeschlitzt. Die Wunde beginnt zwar augenblicklich zu heilen, aber trotzdem tut es verdammt weh. Sven lacht. Ich weiß genau, er lacht mich aus und das macht mich wütend.
„Entschuldige, das ist nicht so gemeint. Glaube mir, vor ein paar hundert Jahren habe ich mir auch laufend auf die Zunge gebissen“, erklärt er mir immer noch grinsend.
„Im Übrigen: Ich habe etwas für dich“, fügt er wieder ernsthaft hinzu.
„Wirklich?“, frage ich aufgeregt und setze mich im Sarg auf.
Sven geht zu dem kleinen Tisch in der einen Zimmerecke hinüber und holt das große Päckchen, das darauf abgelegt war. Dann gibt er mir das Päckchen.
„Ich hoffe es gefällt dir“, fügt er hinzu.
Sofort reiße ich das Packpapier auf. Was das wohl ist?
„Wow!“, entfährt es mir.
Ich stehe auf und halte mir ein langes, dunkelrot und schwarzes Kleid an.
„Das ist wunderschön“, begeistere ich mich, „Kann ich es gleich anprobieren?“  „Nur zu“, nickt Sven offensichtlich erleichtert über meine Begeisterung und dreht sich um, damit ich mich umziehen kann.
„Fertig!“, gebe ich Sven Bescheid. Er wendet sich wieder zu mir um. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse.
„Meint Ihr, dass es mir steht?“, frage ich ihn.
„Wunderschön“, nickt Sven, „Ich lege mich noch ein paar Stunden hin, weck mich spätestens um halb 9, hörst du?“
Ich nicke und stelle mir den kleinen Wecke auf dem Nachttisch neben Svens Sarg. Dann tue ich, was ich immer tu, wenn Sven schläft oder nicht das ist: Ich lese in der Chronik der Vampire. Dieses in altdeutschen Buchstaben geschriebene Buch ist so schwer, dass ich es zum Lesen auf meinen Knien ablegen muss. Es enthält alles, was man über Vampire wissen kann – Geschichte, Religion, Strafgesetze, Mythen, einfach alles.
Pünktlich um halb 9 wecke ich Sven. Er reagiert wesentlich weniger muffelig als ich es erwartet habe und steht sofort auf. Er zieht nichts Besonderes an. Nur seine schwarze Hose, sein weißes Hemd und seinen schwarzen Mantel, genau wie immer. Traditionskleidung, wie er es nennt. Wir verlassen zusammen die kleine Hütte, in der ich nun lebe. Sven hat irgendwo noch eine offizielle Wohnung, aber ich weiß nicht wo. Das Licht der Straßenlaternen schmerzt in meinen Augen. Als ich das letzte Mal Licht zu Gesicht bekommen habe, habe ich noch gelebt. Und damals hat es mir auch nichts ausgemacht.
„Gewöhn dich besser daran. Beim Empfang wird es viele Kerzen geben“, meint Sven.
Und schon wieder hat er meine Gedanken gelesen.
„Ja, es geht schon wieder“, gebe ich zurück.
An der Tür der Sporthalle von meiner alten Schule sitzt ein Mann mit langem, schwarzem Haar an einem Tisch. Ich sehe auf den ersten Blick, dass es sich um einen Vampir handelt. Sven nennt dem anderen Vampir unsere Namen, welche der Vampir dann auf einer Liste sucht und abhakt. Dann nicken sich die beiden freundschaftlich zu. Sven nimmt mich bei der Hand und führt mich in die Halle. Es ist genau wie ich es mir vorgestellt habe. In der Halle sind viele lange Tische aufgestellt worden, die jeweils mit einem Dutzend Kerzen bestückt sind. Es sind schon fast alle Plätze an den Tischen besetzt. Ich bleibe bei einem der Tische stehen, doch Sven zieht mich weiter, bis zu einer Art Bühne, die am Ende der Halle steht. Auf der Bühne stehen sechs Stühle, von denen bereits vier belegt sind. Auf den prunkvollen Stühlen in der Mitte sitzen zwei Vampire, die mir ungeheuer Mächtig erscheinen. Ein weiblicher und ein männlicher Vampir. Als ich sie ansehe, läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken. Rechts neben den beiden sitzen zwei männliche Vampire, die eifrig auf einem Blatt Pergament kritzeln. Wahrscheinlich Protokollanten. Sven steigt auf die Bühne und verbeugt sich kurz vor dem beiden Vampiren, die mir so mächtig erscheinen. Ich tue es ihm nach.
Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich ein leises, zufriedenes Lächeln über die Lippen des weiblichen Vampirs zucken.
Sven setzt sich auf den leeren Platz links neben den beiden und ich nehme neben ihm Platz. Ich bin so nervös, dass ich kaum still sitzen kann.
Sven wirft mir einen zur Ordnung rufenden Blick zu.
Ich seufze lautlos und blicke in die Halle hinab. Die Plätze an den erleuchteten Tischen sind nun voll besetzt. Mir fällt auf, dass links und rechts der Bühne zwei Fackeln aufgestellt sind. Ich blinzele in das helle Licht. Doch ehe ich mich weiter umsehen kann, steht der weibliche Vampir neben Sven auf und alle Vampire in der Halle verstummen.
„Meine Brüder“, beginnt sie.
Sie spricht mit einem mir fremden Akzent. „Wir haben uns heute hier versammelt, um ein neues Kind in unsere Mitte aufzunehmen...“

Sean zieht einen Dietrich aus der Tasche und schiebt ihn in das Schloss der Hintertür. Ich drücke ihm Daumen und Zehen. Zu meiner Erleichterung öffnet sich das Schloss schon nach kurzer Zeit mit einem leisen Klicken. Mein Herz schlägt in Rekordgeschwindigkeit. Sean geht voraus. Ich folge ihm auf den Fersen. Wir gehen durch die dunklen Gänge von den Umkleidekabinen zu der Sporthalle entlang. Zu meiner großen Erleichterung begegnet uns niemand. Die Sporthalle ist komplett mit Kerzen ausgeleuchtet, wirkt sehr schaurig.
„Da ist Lilly“, flüstert Sean mir zu.
Er hat Recht. Lilith is

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